Medizinische Aspekte bei der Adoption fremdländischer Kinder

Tom Schulpen, Niels Sorgedrager

Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Beitrags erschienen in: Hoksbergen/Walenkamp (1991)

Inhaltsübersicht:

  1. Alter des Adoptivkindes und Eintritt der Pubertät
  2. Die perinatale Entwicklung der Adoptivkinder
  3. Ernährung
  4. Angeborene Behinderungen
  5. Erbkrankheiten
  6. Infektionskrankheiten
  7. Impfungen
  8. Grundlegende ärztliche Forschungsergebnisse
  9. Schlussbemerkung

Während der letzten Jahre wurden immer mehr Erkenntnisse über den Gesundheitszustand fremdländischer Adoptivkinder bei ihrer Ankunft in Europa und danach gesammelt. Seit der ersten Publikation zu diesem Thema aus dem Jahr 1979 (Schulpen et al. 1979) haben verschiedene Untersuchungen überraschende Befunde erbracht: Es erwies sich, dass 60% der Kinder eine Krankheit oder Störung aufwiesen, die aber im Allgemeinen gut zu behandeln sind (Van der Heide-Wessel/De Groot 1979).

In manchen Herkunftsländern von Adoptivkindern kommen nur selten tropische Krankheiten vor (Korea), während in anderen Ländern Krankheiten auftreten, die der europäische Arzt in der Regel nur aus Büchern kennt.

Dazu kommt, dass bestimmte Krankheitsbilder eine feste geographische Verbreitung haben. Beispielsweise gibt es den Schistosoma-Parasit in zwei Formen, von denen sich die afrikanische Art in der Blase und dem urinalen Trakt, aber auch in den Därmen, einnistet, während die südamerikanische Variante sich auf die Därme beschränkt. So wird bei einem surinamischen Kind eine Blasenentzündung nie von diesem Parasiten verursacht werden können, wohl aber bei einem Kind aus Äthiopien.

Es gibt auch verschiedene Praktiken der traditionellen Heilkunde, die manchmal zu den "bizarrsten" Abweichungen führen können.

So ist aus der Forschung bekannt, dass indonesische Adoptivkinder, bei denen sich nach ihrer Ankunft in Holland Lähmungen entwickelten, eine sehr seltene Gehirnmissbildung in Form einer Höhle oder porencephalen Zyste hatten (Barth et al. 1987). Die wahrscheinlichste Erklärung für das verhältnismäßig häufige Vorkommen dieser Abweichung ist der Gebrauch von örtlich bekannten Mitteln bei einem Abtreibungsversuch. Eine derartige Höhlenbildung kann durch eine einfache echographische Untersuchung des Gehirns durch die noch offene Fontanelle des Babys ausfindig gemacht werden. Oder: In Äthiopien wird bei einigen Stämmen das Zäpfchen (uvula) abgeschnitten, wenn ein Kind regelmäßig obere Luftweginfektionen hat. Der Arzt entfernt das Zäpfchen mit einer großen Schere, was häufig zu einem großen Blutverlust führt.

 

1. Alter des Adoptivkindes und Eintritt der Pubertät

Obwohl die Kinder ein offizielles Geburtsdatum bekommen haben, erweist sich dieses bei älteren Kindern oft nur als eine bloße Schätzung. Manchmal stellt sich heraus, dass ein Unterschied von ein bis zwei Jahren zwischen dem wirklichen Alter und dem angegebenen Geburtsdatum besteht. Meistens hat man die Kinder zu jung geschätzt, weil sie oft unterernährt waren und geistig ungenügend stimuliert worden sind. Die Ermittlung des wirklichen Alters ist nicht leicht, weil das Alter des Skeletts, das durch ein Röntgenbild der Handwurzelknochen festgestellt wird, aufgrund von Unterernährung zu niedrig geschätzt werden kann. Die Feststellung des Alters des Gebisses kann hier weiteren Aufschluss geben, vorausgesetzt, dass die Untersuchung von erfahrenen Ärzten durchgeführt wird. Schließlich können psychologische Tests bei der endgültigen Festlegung des Alters helfen.

Ein spezielles Problem bildet der frühe Eintritt der Pubertät, den wir regelmäßig bei fremdländischen Adoptivkindern wahrnehmen. Manchmal hat dies mit einer falschen Altersbestimmung zu tun, manchmal aber erweist sich auch, dass diese Kinder früher in die Pubertät kommen als andere Kinder; man spricht in diesem Fall von Pubertas Praecox. Diese frühe Pubertät kann bei Mädchen um das achte und bei Jungen um das zehnte Lebensjahr herum auftreten und einen großen Einfluss auf die letztlich zu erreichende Körperlänge haben. Weil viele fremdländische Kinder sowieso kleiner sind, kann ein zu früher Wachstumsstop in der Pubertät ernste Konsequenzen haben. Jedoch können diese Kinder mit Hormonen behandelt werden, um die Pubertät aufzuschieben und das Wachstum zu fördern. Dies hat wohl praktische und ethische Implikationen, aber eine Körperlänge von weniger als 150 cm bei Mädchen oder von weniger als 160 cm bei Jungen kann durchaus negative Folgen für das Selbstbild der Heranwachsenden haben.

[oben]

2. Die perinatale Entwicklung der Adoptivkinder

In einer Bevölkerung, in der es Unterernährung, viele Krankheiten und eine mangelhafte Geburtshilfe gibt, sind die Kindersterblichkeit oder die Gefahr einer Schädigung des neugeborenen Kindes groß. Leider ist über die perinatale Phase und den Geburtsverlauf bei fremdländischen Adoptivkindern in der Regel wenig bekannt. Wohl versuchen Auslandsvermittlungsstellen, möglichst viele Informationen einzuholen, und raten den Eltern, so viel wie möglich über diese Zeitspanne zu erfragen, falls sie das Kind selbst in seinem Heimatland abholen.

Es ist davon auszugehen, dass Fürsorge und Zuwendung nicht optimal gewesen sind, bevor das Kind nach Europa kommt. Körperliche und affektive Vernachlässigung und manchmal auch Misshandlung werden festgestellt; außerdem weisen manche Kinder Verletzungen auf. Bei der ärztlichen Untersuchung muss man insbesondere auf alte Knochenbrüche, Narben durch Brandwunden oder Misshandlung und Gehirnverletzungen achten. Wenn das Kind in der Zeit vor der Adoption zu wenig Zuwendung und Liebe erfahren hat und geistig ungenügend stimuliert worden ist, kann ein beträchtlicher geistiger Rückstand die Folge sein. Es zeigt sich aber, dass sich die meisten dieser Kinder schnell regenerieren und die Entwicklungsrückstände aufholen.

[oben]

3. Ernährung

Ein akutes Problem, das sich meistens sofort nach der Ankunft zeigt, ist das Auftreten von Durchfall. Dieser kann durch Bakterien (Salmonella, Campylobacter oder Shigella) oder Viren (meist Rotavirus) verursacht sein. Auch können bestimmte Darmparasiten (Giardia lamblia, Amöben) Durchfall hervorrufen. Es ist bei einem solchen Befund wichtig, richtig zu diagnostizieren und umgehend mit der Behandlung zu beginnen. Für den normalen Durchfall betrifft dies die orale Rehydrationsflüssigkeit, die von verschiedenen Firmen geliefert wird. Es ist davon abzuraten, Kindern, die jünger als zwei Jahre alt sind, stopfende Medikamente zu verabreichen - dies kann sogar gefährlich sein. Eine leicht verdauliche, ansteigende Diät nach der Durchfallperiode ist wichtig, wobei möglichst wenig Milch und Milchprodukte gegeben werden sollten.

Die Schädigung der Darmwand, die der Durchfall verursacht, hat bestimmte Enzymaktivitäten gestört, wie die der Laktase, die den Milchzucker (Laktose) abbaut. Eine laktosearme Nahrung kann somit die Beschwerden vermindern; Almiron B enthält nur 1% Laktose, während Almiron M2 und Frisolac 7% Laktose enthalten.

Die meisten fremdländischen Adoptivkinder haben für eine kurze oder längere Zeit Mangel an energiereicher Nahrung erfahren - oft mangelte es sowohl an eiweißreichen Nahrungsmitteln als auch an Vitaminen und Mineralien wie Eisen. Hierdurch sind sie anfälliger für Infektionen. Länge- und Gewichtsrückstand, eine gestörte Knochenentwicklung sowie Schwäche des Bindegewebes und der Muskeln (Hypotonie) können auftreten. Im Allgemeinen erholen sich die Kinder besonders schnell; es verschwindet die Hypotonie innerhalb einiger Monate. Meistens kommt es zu einer Phase der Fressgier, wobei insbesondere etwas größere Kinder so viel wie möglich hinunterschlingen. Das Essbedürfnis ist lange Zeit nicht befriedigt worden, und das Kind kann sich nun endlich am Essen gütlich tun. Der Rückstand kann so in der Regel leicht aufgeholt werden. Die Erfahrung zeigt, dass dieses Essbedürfnis im Verlauf der Zeit wieder geringer wird. Dennoch ist darauf zu achten, dass die Kinder nicht kohlehydratreiche und süße Nahrungsmitteln im Übermaß zu sich nehmen.

Manche Kinder, die in die Trotzphase gekommen sind, weisen ein anderes Verhaltensmuster auf: Sie weisen das Essen entschieden zurück, akzeptieren nur noch die Flasche oder wollen nur bestimmte Nahrungsmittel essen. Die Gefahr ist groß, dass die Eltern dem Aufessen der vorgesetzten Nahrung zu viel Aufmerksamkeit schenken, weil sie fürchten, dass das sowieso schon dünne Kind noch unterernährter werden und sich dadurch Krankheiten zuziehen könnte. Oft ist es besser, dieses Problem mit Hilfe eines Psychologen oder Pädagogen im Frühstadium anzugehen. Mit einem Belohnungssystem und einer entspannten Vorgehensweise ist es oft möglich, einer Eskalation zuvorkommen.

Ein wichtiger Punkt ist der Einfluss von Unterernährung auf das spätere Funktionieren des Gehirns. Hierzu liegen viele Untersuchungsbefunde vor. Übereinstimmende Ergebnisse gibt es aber nicht, weil man Einflüsse der Umgebung, die ungenügende Stimulierung und die Folgen einer Hospitalisierung nicht vom direkten Einfluss der Unterernährung trennen kann. Dennoch weisen die Untersuchungen in die Richtung einer Verminderung bestimmter Gehirnfunktionen bei Kindern, die lange Zeit unterernährt gewesen sind.

Hoorweg (1976) beschreibt in seiner Doktorarbeit, dass bei einer Gruppe von etwa 15-jährigen ugandischen Kindern, die während einer längeren Zeit stark unterernährt waren, das Argumentieren und das Raumgefühl gestört waren, während das Gedächtnis einen leichten Rückstand gegenüber normal entwickelten ugandischen Kindern aufwies. Bemerkenswert war, dass die Sprachfähigkeit nahezu ungestört blieb, ebenso wie die motorische Entwicklung.

Fremdländische Adoptivkindern müssen meistens zusätzlich Vitamin D erhalten, da sie wegen ihrer dunklen Haut in unserem gemäßigten Klima davon zu wenig produzieren. Vitamin D wird nämlich unter dem Einfluss des Sonnenlichts in der Haut gebildet, kommt aber ansonsten, außer in Fischprodukten und als Zusatz in Margarine, kaum in unserem Nahrungspaket vor.

[oben]

4. Angeborene Behinderungen

Im Allgemeinen werden angeborene Behinderungen bereits von Ärzten beurteilt, bevor das Kind in eine Adoptivfamilie kommt. Zumeist wird ein Gutachten eines Kinderarztes aus dem Heimatland angefordert. Wenn nötig, wird um ergänzende Untersuchungen gebeten. Wenn sich herausstellt, dass eine Behinderung besteht, die mit einer Operation oder Behandlung in Deutschland beseitigt werden kann, dann wird dies den Eltern mitgeteilt. Diese können dann entscheiden, ob sie ein Kind mit einer derartigen Behinderung haben wollen. Es handelt sich meistens um Herzfehler, Hasenscharte, Behinderungen der Arme oder Beine, Sehbehinderungen, Gehörstörungen oder leichte Lähmungen.

Bei ernsthaften körperlichen und insbesondere geistigen Störungen ist zu erwägen, ob ein solches Kind in einer Familie aufwachsen kann. Sollte dies nicht der Fall sein, dann wird meistens beschlossen, das Kind im Kinderheim des Heimatlandes zu lassen und finanziell zu unterstützen. Dies gilt vor allem für geistig schwer behinderte Kinder, für Kinder mit einer schweren körperlichen Behinderung und für Kinder mit einer kurzen Lebenserwartung - zum Beispiel aufgrund von AIDS.

Es zeigt sich aber, dass nur 30% der seropositiven Babys letztendlich die AIDS-Krankheit bekommen. So kann man die Entwicklung von seropositiven Kindern im Verlauf der nächsten anderthalb Jahre verfolgen und sie danach in eine Adoptivfamilie vermitteln, falls die Antistoffe, die durch die Mutter in das Kind gekommen sind, verschwunden sind. Kinder, die das AIDS-Virus haben, weisen in der Regel innerhalb von einigen Monaten bis zu einem Jahr Krankheitserscheinungen auf und sterben meistens nach zwei oder drei Jahren.

Obwohl es einige Eltern gibt, die auch ein Kind mit AIDS adoptieren würden, ist es die Aufgabe des ärztlichen Beraters, so ehrlich und objektiv wie möglich über die Konsequenzen der Annahme eines chronisch kranken Kindes zu informieren (Dorssen et al. 1990).

[oben]

5. Erbkrankheiten

Erbkrankheiten manifestieren sich bisweilen erst im fortgeschrittenen Alter, können aber auch auf die nächste Generation übertragen werden, ohne dass der Träger Symptome aufweist. Deswegen ist eine derartige Erkrankung nur schwer ausfindig zu machen, insbesondere wenn man über die geographische Verbreitung bestimmter Abweichungen nicht Bescheid weiß. So kommt beispielsweise die Sichelzellenanämie hauptsächlich bei der negroiden Bevölkerung vor, während Thalassämie vor allem im Mittelmeergebiet und in Asien auftritt. Diesen Erbkrankheiten ist gemeinsam, dass die roten Blutzellen aufgrund der erblichen Abweichung schneller abgebaut beziehungsweise weniger gut produziert werden, wodurch es zu Blutarmut kommt.

Bei der Sichelzellenanämie entstehen Gerinnsel in den kleinen Blutgefäßen durch das Zusammenklumpen sichelförmiger roter Blutkörperchen. Diese können zu heftigen Schmerzanfällen führen, hauptsächlich in den Händen und Füßen.

Bei der Thalassämie ist der Blutabbau derart gestört, dass alle sechs Wochen eine Bluttransfusion notwendig ist. Darüber hinaus müssen während der Nacht spezielle Medikamente durch einen kleinen subkutanen Schlauch verabreicht werden, um den sich im Körper befindenden Eisenüberschuss abzubauen.

Diese beiden Krankheitsbilder entstehen, wenn der Vater und die Mutter beide Träger der Erbkrankheit sind. Im Durchschnitt bekommt dann eins von vier Kindern diese Krankheit. Die Trägerschaft selber verursacht bei der Sichelzellenanämie keine Beschwerden, während sie bei der Thalassämie zu einer leichten Blutarmut führen kann. Meist wird die Thalassämie dadurch erkannt, dass beim Kind die Blutarmut nicht verschwindet und es ungenügend auf die verabreichten Eisenpräparate reagiert. Leider zeigt sich, dass die meisten Ärzte über diese Form von Blutarmut nicht Bescheid wissen und deshalb zu lange Eisen verabreichen, wobei die Gefahr einer Anhäufung von Eisen im Blut besteht.

Auch sollte bei Auslandsadoptionen jedes Baby im Alter von unter einem Jahr auf Erkrankungen der Schilddrüse oder des Stoffwechsels (Phenylketonurie) untersucht werden.

[oben]

6. Infektionskrankheiten

Am häufigsten kommen bei fremdländischen Adoptivkindern Infektionskrankheiten vor. Gut die Hälfte der Kinder hat bei ihrer Ankunft eine oder mehrere Infektionen oder hat im Heimatland eine Infektionskrankheit durchgemacht. Durch die unhygienischen Verhältnisse sind es insbesondere parasitäre und bakterielle Erkrankungen, wobei Darm- und Hautinfektionen vorherrschen. Darminfektionen werden durch Bakterien, Viren oder Parasiten verursacht, die neben Durchfall auch andere Probleme verursachen.

So bewirkt beispielsweise der Grubenwurm, der sich in der Darmwand mit Blut ernährt, Blutarmut, während der Spulwurm, der sich wie ein Knäuel Spaghetti im Darm befindet, Verstopfungen oder sogar Unterernährung hervorrufen kann. Amöben können schwere Abweichungen in der Darmwand und Leber bewirken.

Deshalb ist es wichtig, dass der Stuhl der Adoptivkinder auf tropische Parasiten kontrolliert wird. Ohnehin sollten diese Kinder möglichst von Kinderärzten mit Tropenerfahrung untersucht werden.

Bei Hautinfektionen handelt es sich vor allem Krätze (Skabies) und Schimmelinfektionen.

Krätze ist manchmal schwer erkennbar, weil die typischen kleinen Gänge, die die Krätzemilbe unter die Haut gräbt, meist aufgrund des Kratzens des Kindes nicht zu sehen sind. Skabies verursacht nämlich intensives Jucken. Man kann Schimmelinfektionen, die depigmentierte Stellen auf der Haut verursachen, am besten mit Selsun behandeln.

Tuberkulose kommt in Entwicklungsländern häufig vor. Deswegen werden die meisten Kinder kurz nach der Geburt geimpft. Diese so genannte BCG-Impfung geschieht mit einem abgeschwächten Tuberkelbakterium. Es verursacht ein kleines Geschwür an der Stelle der Impfung, meist auf der linken Schulter. Hierdurch werden Antistoffe gegen Tuberkulose gebildet, was zur Folge hat, dass die Mantoux-Reaktion - ein Test, um den Kontakt mit Tuberkulose nachzuweisen - positiv wird. Die Narbe auf der Schulter ist beim fremdländischen Adoptivkind der Beweis, dass eine BCG-Impfung erfolgte.

Geschlechtskrankheiten wie Syphilis (Lues) kommen zwar nicht so häufig vor, werden aber dann und wann diagnostiziert. Sie verursachen bei Babys nur selten Krankheitserscheinungen, können aber nach einiger Zeit ernste Abweichungen bewirken, hauptsächlich im Knochenbau und im Gehirn. Es ist deshalb sehr wichtig, alle fremdländischen Adoptivkinder auch auf Syphilis zu untersuchen, zumal dieses Krankheitsbild in den Tropen viel häufiger vorkommt als in Europa. Manchmal findet man nur Antistoffe gegen Lues, ohne dass die Bakterien auf das Kind übergegangen sind. Die Behandlung ist einfach und besteht aus einer Reihe von Penizillininjektionen.

Gelbsucht (Hepatitis) ist eine häufig vorkommende Krankheit. Hier handelt es sich um eine Infektionskrankheit, bei der das Virus über die Exkremente übertragen und durch das Trinken oder Essen von infizierten Nahrungsmitteln aufgenommen wird. Durch die unhygienischen Zustände und das heiße Tropenklima ist dieses Virus in der Dritten Welt weit verbreitet. Reisen Adoptionsbewerber in tropische Länder, so sollte ihnen empfohlen werden, sich mit Gammaglobulin impfen zu lassen, wodurch sie einige Monate lang gegen diese Krankheit geschützt sind. Es hat sich gezeigt, dass Adoptiveltern, die nie in den Tropen gewesen sind, aber ein von dort stammendes Kind in die Familie aufgenommen haben, auch mit dem Hepatitis-A-Virus infiziert worden sind. So sollte erwogen werden, ob in einem solchen Fall nicht die ganze Familie mit Gammaglobulin gegen Hepatitis-A geschützt werden sollte.

Hepatitis-B ist die zweite Form der Gelbsucht. Sie wird nur durch Blut oder sexuelle Kontakte übertragen. Ein Träger des Virus ist nicht krank, hat aber das Virus in seinem Blut, das dadurch ansteckend ist. Etwa 5 bis 10% der Bevölkerung Asiens sind Träger, für Afrika und Süd-Amerika ist dieser Prozentsatz etwas niedriger. Es zeigt sich, dass das Hepatitis-B-Virus während der Schwangerschaft auf ein Kind übergehen kann. Gibt man kurz nach der Geburt Gammaglobulin gegen Hepatitis-B und wird das Kind danach dreimal geimpft, dann verhindert man dadurch eine Trägerschaft. Dies ist bei fremdländischen Adoptivkindern in der Regel nicht möglich, weil bereits innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt mit dieser Behandlung begonnen werden muss. Sollte das Kind Träger dieser Krankheit sein, dann muss man bei der Abnahme von Blut oder bei Verletzungen vorsichtig sein, ansonsten gibt es aber wenig Gefahren. Nur wenn das Kind häufig andere Menschen beißt oder ein intensiver Blut-Blut-Kontakt stattgefunden hat, sollte man erwägen, die jeweilige Person impfen zu lassen. Jedoch wird im Allgemeinen die ganze Familie eines Kindes mit Hepatitis-B-Trägerschaft geimpft.

Es ist wichtig, dass ein fremdländisches Adoptivkind innerhalb von 14 Tagen von einem Kinderarzt untersucht wird, unter anderem, um die erwähnten Infektionskrankheiten möglichst schnell ausfindig zu machen. Auch wenn das Kind äußerlich gesund aussieht und keine Beschwerden hat, kann es dennoch eine Gefahr für seine Umgebung sein. Dies muss möglichst schnell ausgeschlossen werden.

[oben]

7. Impfungen

Oft ist unbekannt, welche Impfungen die Kinder vor der Abreise aus ihrem Heimatland erhalten haben. Bei BCG-Impfungen macht dies wenig Probleme, obwohl manche Kinder erst sehr kurz vor der Abfahrt geimpft worden sind und sich bei ihnen nach einigen Wochen eine kleine Geschwür auf der linken Schulter entwickelt. Manchmal geht dies mit einer Drüsenschwellung in der Achselhöhle einher. Im Allgemeinen verschwinden diese Abweichungen spontan. Manchmal aber ist es nötig, INH-Puder (Antituberkulosemedikament) auf das Geschwür zu streuen oder INH-Puder zu verabreichen, um einen allzu heftig reagierenden Lympfknoten zu heilen.

Bei den übrigen Impfungen muss man sich auf die Angaben verlassen, die das Kind mitbekommen hat. Dabei ist zu überprüfen, ob die in Deutschland üblichen Impfungen erfolgt sind.

[oben]

8. Grundlegende ärztliche Forschungsergebnisse

In den Jahren 1984 und 1985 wurden in den Niederlanden Untersuchungen über den Gesundheitszustand fremdländischer Adoptivkinder direkt nach ihrer Ankunft durchgeführt. Von den Kindern, die während dieser zwei Jahre ankamen, wurde fast die Hälfte nach einem festen Schema untersucht. Die Resultate wurden in einer Doktorarbeit dargestellt.

Während dieser zwei Jahre wurden insgesamt 2.236 Kinder adoptiert; 1.003 Untersuchungsprotokolle wurden ausgewertet (44,2%). 85% der Protokolle kamen von Kinderärzten (meist Kinderärzte mit Tropenerfahrung) und 15% von Hausärzten. Es zeigte sich, dass 86% der Kinder innerhalb von zwei Wochen nach ihrer Einreise untersucht worden waren. Von den Kinder hatten zum Zeitpunkt der Ankunft

(a) 32% Hautkrankheiten, vor allem Skabies oder Krätze (11%),

(b) 15% Probleme im HNO-Bereich,

(c) 4% Sehstörungen,

(d) 5% einen Herzfehlerverdacht, wobei sich herausstellte, dass es sich beim größten Teil um ein unproblematisches Herzrauschen handelte,

(e) 13% Probleme mit dem Bauch, zumeist eine vergrößerte Milz oder Leber, manche hatten aber auch nur einen Nabelbruch,

(f) 6% Lungenprobleme, meist eine Entzündung,

(g) 4,5% Abweichungen an den Genitalien, wobei insbesondere Hodenhochstand oder eine zu enge Vorhaut vorkamen,

(h) 1% Harnwegsinfektionen,

(i) 4 % Haltungsschäden wie X-Beine, Fußabweichungen, Hüftprobleme oder ein schiefer Rücken, und

(j) 12% wiesen einen Entwicklungsrückstand auf.

Von den Mädchen hatten 30% und von den Jungen 22% bei der Ankunft einen Rückstand in der Körperlänge. Das Körpergewicht von 32% der Mädchen und 28% der Jungen lag unter der P3-Norm; P3 bedeutet, dass nur 3% der Bevölkerung ein so geringes Körpergewicht hat. Es stellte sich heraus, dass mehr als 60% der Kinder ein oder mehr körperliche Probleme aufwiesen, die aber meistens von wenig ernster Natur und leicht zu korrigieren waren. Jedoch mussten 2% der Kinder sofort in ein Krankenhaus eingewiesen und 11% an Fachärzte wie Dermatologen, HNO-Ärzte, Orthopäden, Augenärzte oder Kardiologen überwiesen werden. Auch hatten 5% der Kinder angeborene Behinderungen, meist leichter Art. Insgesamt 17 Kinder wiesen einen Komplex von Abweichungen (Syndrom) oder eine Stoffwechselstörung auf. Es zeigte sich, dass 1% der Kinder ein falsches Alter hatte.

Das Untersuchungsschema umfasste auch eine Laboruntersuchung, bei der Blut, Urin und Stuhl analysiert wurden. Ferner wurde ein Röntgenbild vom Herzen und der Lunge gemacht. Es stellte sich heraus, dass

(a) 25% der Kinder Infektionen im Blut aufwiesen,

(b) 17% unter Blutarmut litten,

(c) 18% gestörte Leberfunktionen hatten,

(d) 37% einen zu niedrigen Eiweißgehalt im Blut hatten,

(e) 2% Träger des Hepatitis-B-Virus waren und

(f) 0,3% Syphillis hatten.

Bei der Untersuchung des Stuhls wurden bei 17% der Kinder tropische Parasiten festgestellt, während gut 15% eine durch Salmonella oder Campylobacter verursachte Darmentzündung hatten. Die Untersuchung auf tropische Parasiten erfolgte in einem Tropenlabor und war somit viel gründlicher als Untersuchungen in örtlichen Labors.

Ein Röntgenbild vom Herzen und der Lunge zeigte in 12,5% der Fälle eine Abweichung, meist eine Lungenentzündung, manchmal aber auch Tuberkulose oder Herzfehler. Bei den meisten Kindern über ein Jahr wurde ein Handwurzelbild gemacht, um das Skelettalter festzustellen, und dieses stimmte in 30% der Fälle nicht mit dem angegebenen Alter des Kindes überein. Fast immer wurde dies durch Unterernährung verursacht.

Es fiel auf, dass sich die Untersuchungsbefunde von Hausärzten und diejenigen von Kinderärzten deutlich unterschieden:

Obwohl im Begleitbrief gebeten worden war, dem Untersuchungsschema zu folgen, ergab sich dennoch in der Praxis, dass von Hausärzten weniger Blutuntersuchungen durchgeführt wurden und manche sogar eine ganz oberflächliche Untersuchung vornahmen. Auch zeigte sich, dass bei den Hausärzten 61% der Kinder keine körperlichen Abweichungen aufwiesen, während dies bei Kinderärzten nur 35% waren. Es erwies sich, dass insbesondere Hautabweichungen, Vergrößerung der Leber und Herzfehler bei Hausärzten seltener vorkamen oder weniger häufig festgestellt wurden. Die Unterschiede bei den körperlichen Untersuchungen dürften zum Teil durch die Tatsache zu erklären sein, dass vor allem junge Kinder zum Kinderarzt geschickt wurden, während ältere Kinder häufiger beim Hausarzt vorgestellt wurden.

Die empfohlenen Laboruntersuchungen wurden von fast 90% der Kinderärzte durchgeführt, während weniger als 50% der Hausärzte diese veranlassten. Wahrscheinlich ist das komplizierte Blutabnahme- und Blutdeterminierungsverfahren in einem örtlichen Labor hierfür die Ursache, Auf jeden Fall müsste die Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Hausärzten verbessert werden.

Zwei Jahre später wurde allen Eltern der untersuchten Adoptivkinder ein weiterer Fragebogen mit Fragen über das Wachstum und die Entwicklung der Kinder sowie über ergänzende ärztliche Daten geschickt. Fast 95% der Eltern beteiligten sich an dieser Umfrage. Es stellte sich heraus, dass sich während der ersten zwei Jahre viele Probleme bei den Adoptivkindern manifestierten:

Bei 4% entwickelten sich nachträglich Ekzeme und bei 1,5% Krätze. Bei fast 8% kam es zu Problemen im HNO-Bereich. Es ergab sich, dass 1% taub war, 7% Lungenentzündungen bekamen und fast 4% Magen-Darm-Beschwerden. Abweichungen im Muskel-Nerven-System wurden bei gut 3% der Kinder diagnostiziert. Fast 1% wies Knochenabweichungen auf und bei einem weiteren Prozent der Kinder wurde nachträglich eine gestörte Entwicklung festgestellt. Fast 2% der Kinder bekamen Gicht in den ersten zwei Jahren nach Ankunft.

Aus diesen Forschungsergebnissen ergibt sich, dass verschiedene Abweichungen erst nach einem Aufenthalt von ein bis zwei Jahren gefunden werden. Alle genannten Krankheitsbilder und Störungen kamen in der Gruppe der fremdländischen Adoptivkinder häufiger vor als im Durchschnitt der Bevölkerung. Es ist deswegen wichtig, die Entwicklung der Kinder zu verfolgen und auf eventuell nicht erkannte Abweichungen oder Entwicklungsstörungen zu achten.

Auch das Wachstum der Kinder wurde eingehend verfolgt. Bei ihrer Ankunft befand sich ein Drittel der Adoptivkinder unterhalb der niedrigsten Norm des internationalen Wachstumsstandards. Jedoch holten die meisten den Rückstand auf, sodass nach zwei Jahren schließlich nur noch 40 Kinder unterhalb der niedrigsten Norm blieben. Dies waren vor allem Kinder mit einem sehr geringen Geburtsgewicht, Unterernährung oder chronischen Krankheiten. Der größte Längen- und Gewichtsrückstand wurde in der Altersklasse von sieben bis 12 Monaten gefunden. Das Körpergewicht von 50% dieser Kinder war zu niedrig und 30% waren zu klein.

[oben]

9. Schlussbemerkung

Der Gesundheitszustand fremdländischer Adoptivkinder lässt bei ihrer Ankunft in Europa oft zu wünschen übrig. Die Lebensumstände in der Dritten Welt mit schlechter Hygiene und einem tropischen Klima erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder eine lange Reihe von Krankheiten und Abweichungen aufweisen. Man darf annehmen, dass etwa 60% der Kinder eine oder mehrere Krankheiten oder Störungen mitbringen, was durch die dargestellte Untersuchung bestätigt wurde. Aufgrund dieser Forschungsergebnisse wurde in den Niederlanden ein neues Schema für die erste ärztliche Untersuchung entwickelt, das von allen Auslandsvermittlungsstellen verwendet und Eltern mitgegeben wird. Immer häufiger werden diese Untersuchungen von einem Kinderarzt mit Tropenerfahrung durchgeführt.

[oben]


 

Hier gehts zurueck ...     ... zur Homepage